Dorian van Delft, ein erfolgreicher holländischer Kaufmann, begegnet im Jahr 1870 in Reykjavik dem Archäologen Dr. Frans Ingmarson. Der Wissenschaftler präsentiert ihm eine spektakuläre Theorie: Auf Island habe zu Zeiten der Wikinger eine Unsterbliche gehaust, eine Wahrsagerin. Es handle sich mit einiger Sicherheit um Kassandra, die legendäre Königstochter aus Troja! Ihren Spuren bis in die Gegenwart zu folgen, fehle ihm allerdings das Budget.

   Van Delft ist sofort Feuer und Flamme. Für seine Geschäfte könnte eine zuverlässige Seherin von immensem Nutzen sein. Gemeinsam begeben sich die beiden ungleichen Partner auf eine abenteuerliche Reise kreuz und quer durch Europa.


 

Dies Buch widme ich allen,

die sich ihr kindliches Vergnügen

am echten Abenteuer bewahren konnten.

 

In Dankbarkeit für die phantastischen Welten, die

uns Paul Delvaux und Jules Verne in ihren

Gemälden und Romanen hinterließen.

 

 

Kassandras langer Schatten

 

Die Überlebende von Pompeji

 

Tagebuch des Dorian van Delft

Donnerstag, 12. Mai anno Domini 1870,

an Bord des Dampfschiffes „St. Egidius“   

   Doktor Ingmarson! Zum Kuckuck. Das Schiff schlingert. Fast wäre ich gestürzt. So kann kein Mensch schreiben. Geschweige denn etwas suchen. Irgendwo klirrt es. Splitterndes Glas. Der Seegang wird stärker. Ich bin der Verzweiflung nahe. Ingmarson verdammt, ich kann mein Eau de Toilette nirgends finden. Wozu bezahle ich Sie eigentlich? Doch nicht aus purer Liebe zur Wissenschaft!

   Zugegeben, seine Forschungen, die Theorien zu mythischen Kräften und deren Auswirkungen auf Mensch und Natur bereiten mir Freude. Sonst hätte ich ihm keinesfalls versprochen, seine zweifelhafte Unter-nehmung zu finanzieren. Natürlich unter der Voraussetzung, dass wir das Abenteuer gemeinsam bestehen. Trotzdem. Nie im Leben hätte ich mich ausgerechnet auf diesen Trottel eingelassen, wenn ich mir davon nicht persönlichen und sehr praktischen Nutzen verspräche.

   Es mag beruhigen, mir auf diesem Blatt Papier den Frust von der Seele zu schreiben. In der Sache bringt es mich nicht weiter. Ingmarson muss mir helfen. Wo steckt der Kerl? Es kann einfach nicht sein, dass der gute Herr Ingmarson sich rarmacht und irgendwelche Messungen an Bord durchführt, während ich hier unten in der Kabine vergeblich mein Eau de Toilette suche! Und das bei den Wellen! Will er mich umbringen? Was sollen die Leute nachher beim Dinner sagen, wenn sie auf meine aparte Duftnote verzichten müssen?

 

Fußnote van Delft, Rotterdam im Januar 1871

   Ich unterbreche nur ungern. Es lässt sich nicht vermeiden. Bei Durchsicht meiner Notizen aus dem vergangenen Jahr sehe ich mich gezwungen, die eine oder andere Bemerkung einzufügen. Nicht, um das seinerzeit Niedergeschriebene zu korrigieren und also zu verfälschen, wohl aber, um mit bedachtvoller Strenge Dinge zu erläutern, die, im Übereifer des Moments zu Papier gebracht, späteren Lesern ein falsches Bild meiner damaligen Absichten vermitteln möchten. Somit um Nach-sicht heischend, fühle ich mich zunächst verpflichtet, ein paar Worte in eigener Sache zu verlieren.

   Mein Name ist Dorian van Delft. Ich bin in Rotterdam ansässig, Kauf-mann und Weltreisender aus Passion. Mein traditionsreiches und, wie ich nicht unbescheiden hinzufügen darf, recht erfolgreiches Familien-unternehmen erfreut sich eines guten Rufes diesseits und jenseits des Atlantiks.

   Anfang letzten Jahres war ich mit einer Schiffsladung hochwertiger Stähle und Bleche aus Pittsburgh auf dem Weg nach Reykjavik, wo ich diese Fracht löschte und anschließend meinen Gewinn zu mehren gedachte, indem ich Naturprodukte der isländischen Fischereiwirtschaft für den europäischen Festlandsmarkt erwarb. Tran vor allem, Dörrfisch, Robbenfelle und so weiter. Dass ich Dr. Frans Ingmarson begegnete, ergab sich rein zufällig. Allerdings lief mir dieser schrullige Wissenschaftler genau im rechten Moment über den Weg.

   Sie kennen so etwas sicherlich. Nennen Sie es Schicksal, nennen Sie es Fügung. Gottes Wege sind unergründlich. Es sind die unerwarteten Ereignisse, die unseren Lebenskahn von Zeit zu Zeit in eine neue Strömung treiben.

   Ob dies dann zu unseren Gunsten oder Ungunsten ausfällt, vermögen wir in aller Regel erst im Nachhinein zu entscheiden. Rückgängig machen können wir die einmal getroffene Wahl nicht.

   Glauben Sie mir, ich bereue nichts. Mein Leben erhielt damals einen neuen Sinn. Auch wenn mir das nicht von Anfang an klar war. Schon gar nicht an dem oben beschriebenen Abend, unserem dritten gemeinsamen Tag auf hoher See. Mehr noch. Ich bin mir sicher, dass ich mit Hilfe des kleinen Doktors mein Ziel erreichen werde.

   Es ist ein hehres Ziel, fernab von gemeinem Gewinnstreben. Und ich bin bereit, einiges dafür zu riskieren. Wen würde es nicht reizen, einmal einer Unsterblichen leibhaftig gegenüber zu treten, ihren Worten zu lauschen, von ihr die Wahrheit über den Weltenlauf zu erfahren?

   Denken Sie jetzt bitte nicht an Geschichtsbücher. Menschenwerk! Geschönt und geformt vom Blickwinkel des Autors, tausendmal glatt-geschliffen und dem jeweiligen Zeitgeschmack angepasst. Nein, wovon ich rede, das ist die große, die reine, ungeschminkte Wahrheit über den Gang der Dinge, die wir unbedeutenden Erdenwürmer mit unserem Spatzenhirn normalerweise nie erfassen können.

   Ich habe an der Schwelle des universellen Wissens stehen dürfen. Ich habe an seiner Tür gerüttelt. Weswegen ich mich verpflichtet fühle, Sie, meine geneigte Leserschaft, und durch Sie die gesamte Menschheit am Stand unserer Forschungen teilhaben zu lassen. Ich schwöre Ihnen: Ich werde nicht ruhen, bis ich diese Pforte öffnen kann.

   Ich sehne mich nach dem Augenblick, endlich jener Frau gegenüber-zustehen, die Pompejis Bürger vor dem Untergang hätte bewahren können. Es gibt keinen Zweifel. Sie hatte vor dem Ausbruch des Vesuv gewarnt, hatte zur Flucht aufgerufen. Sie erntete Spott und Häme, Unverständnis, Ignoranz.

   Ich, Dorian van Delft, verspreche hiermit feierlich: Ich werde diese Frau, wie immer ihr richtiger Name sein mag, finden. Ich werde sie zurück in die Öffentlichkeit führen und zum Nutzen der Menschheit rehabilitieren! Amen.

   Ihren Anfang nahm meine Suche wie erwähnt auf Island. In Reykjavik. Wenn ich nunmehr erneut darüber nachdenke, halte ich es zum besseren Verständnis der Ereignisse für sinnvoll, dieser Abschrift einige frühere Tagebucheintragungen ergänzend voranzusetzen.

    Beginnen wir also von vorn. Ende April vorigen Jahres, kurz nach meiner Landung auf der Insel.  

...

   Nachdem ich mein Tagebuch verstaut hatte, verließ ich wütend die Kajüte. Es dauerte eine Weile bis ich meinen Begleiter fand. Er stand an der Reling und schien Fische zu beobachten.

   „Ingmarson, Sie alter Wurzeltroll! Was soll das? Was treiben Sie sich an Deck herum, wenn ich Sie unten brauche?“

   „Mir ist schlecht!“ antwortete der Angesprochene. „Entschuldigen Sie vielmals, Mynheer, es wird bestimmt gleich w…ooah.“ Sein blaßgrüner Teint und die zugehörigen Würgattacken bewiesen, dass es sich um keine faule Ausrede handelte. Ich musste lachen.

   „Doktorchen, Doktorchen! Das ist nicht Ihr Ernst? Ein Nachkomme der ruhmreichen normannischen Seefahrernation und füttert mir beim ersten kleinen Wellengang die Heringe. Beugen Sie sich nicht so weit über, Mann! Ich habe keine Lust, mir beim nächsten Landgang gleich wieder einen neuen Butler …“

   „Wissenschaftlichen Mitarbeiter, bitte.“

   „Von mir aus ‚wissenschaftlichen Mitarbeiter‘ … Was wollte ich sagen? Vergessen. Sie besitzen ein bemerkenswertes Talent, Menschen aus dem Konzept zu bringen. Wie dem auch sei, nehmen Sie sich gefälligst zusammen, Mann! Wir haben noch ein paar tausend Seemeilen vor uns. Genügend Zeit, Ihre Neigungen auszuleben. Jetzt kommen Sie erstmal mit runter und helfen mir, mein Eau de Toilette zu suchen. Sonst können wir uns nachher nicht bei Tisch sehen lassen und es soll heute Abend eine besonders leckere Kreation …“

   „Mynheer! Würden Sie bitte aufhören, vom Essen zu reden. Ich … woooooah …“

   „Meine Güte, sind Sie empfindlich! Meinetwegen. Bleiben Sie von mir aus hier. In dem Zustand nutzen Sie mir wenig.“ Ärgerlich verließ ich das Deck und kehrte in unsere Kajüte zurück. Das Eau de Toilette stand übrigens mitten auf dem Tisch. Ich sah es beim Eintreten. Eingeklemmt zwischen Bücherstapeln, die Ingmarson mit einem Lederriemen sorgsam festgeschnallt hatte. Eine Vorsichtsmaßnahme gegen den schweren Seegang. Sehr umsichtig.

   Erstaunlicherweise schaffte es der Doktor dann doch irgendwie zum Dinner. Zwar stocherte er nur zaghaft mit der Gabel im üppigen Menü herum. Es schien ihm aber deutlich besser zu gehen. Als schließlich die Tischgesellschaft auf sein Lieblingsthema zu sprechen kam, war Ingmar-sons Übelkeit wie weggeblasen und Farbe kehrte in die blassen Wangen zurück. Vor allem der zweite Offizier, ein schlaksiger junger Brite namens Atkins, bekam angesichts unserer unglaublichen Geschichte große leuchtende Augen.

   „Kann das wirklich sein? Nach so vielen Jahren?“ hakte er nach.

   „Wenn ich es Ihnen versichere, Mr. Atkins. Es gibt kaum zu wider-legende Beweise. Es handelt sich bei der Trollhexe im Skessuhorn mit einiger Sicherheit tatsächlich um die letzte, will sagen, die einzige Überlebende von Pompeji. Ich habe mir beglaubigte Kopien römischer Zeitzeugenberichte aus der Vatikanbibliothek kommen lassen. Diese Dokumente bestätigen unsere Vermutungen eindrucksvoll. Tatsächlich soll es eine Wahrsagerin gegeben haben, die einige Wochen vor dem Vulkanausbruch vergeblich zur Evakuierung der Stadt aufrief. Die damals getroffenen Aussagen decken sich weitgehend mit den Hinter-lassenschaften der Trollhexe im Skessuhorn.“

   „Dann hätte sie zu Zeiten der Wikinger aber schon über 1000 Jahre alt sein müssen. So alt wird kein Mensch.“

   „Mr. Atkins, Sie sind jung und ein Heißsporn. Das ist nicht weiter schlimm. Versuchen Sie einfach, ruhig zu überlegen. Ich frage Sie: Sie glauben an Gott?“

   „Gewiss, Sir, tun das nicht alle?“

   „Die meisten jedenfalls. Nun, sehen Sie: Ist Gott ein menschliches Wesen?“

   „Natürlich nicht.“

   „Ist Gott so alt wie die Welt?“

   „Er ist zweifellos älter.“

  „Eben. Rein wissenschaftlich betrachtet: Wenn es ein übermen-schliches Wesen gibt, und wir reden ja letztlich in unserm christlichen Glauben außerdem von Engeln und Teufeln, müssen also gar nicht nach den alten Griechen, Römern oder Indern schauen, was sollte uns daran hindern zu vermuten, dass die Überlebende von Pompeji nicht ein ebensolches übermenschliches Wesen ist? Vielleicht ist sie ein Engel, der genau darum in der Stadt weilte. Um die Menschen zu warnen.

   Denken Sie an Kassandra, die Königstochter von Troja. Ihr war es bestimmt, die Zukunft exakt vorherzusehen. Allein, keiner glaubte ihr. Das war ihr Fluch. Was, wenn es sich um die gleiche Frau handelt? In Troja, in Pompeji und wer weiß wo sonst überall? Was, wenn diese Frau womöglich gar eine Verkörperung der antiken Erdmutter Gaja darstellt?

   Winken Sie nicht ab. Woher wollen Sie wissen, dass die heidnischen Völker des Altertums nicht letztlich die gleichen himmlischen Wesen wie wir heute anbeteten, nur dass sie ihnen törichterweise andere Namen gaben? Aus Unwissenheit. Bedenken Sie, Jesus von Nazareth und seine Jünger waren zu Zeiten des Trojanischen Krieges noch nicht geboren und die Israeliten ein unbedeutender kleiner Stamm in der Wüste. Nehmen wir also an, diese seltsame Frau ist wahrhaftig von Gott dazu ausersehen, den Wesen seiner Schöpfung behilflich zu sein, Natur-katastrophen und andere Gefahren rechtzeitig zu erkennen und ihnen auszuweichen.

   Nur dass ein teuflischer Zauber sie dazu verdammt, dass niemand jemals ihren Warnungen Glauben schenkt. Wo immer sie erscheint, verschließen die Leute ihre Ohren und Türen. Das ist Kassandras Dilemma, ihre Tragödie.“

   „Und warum sollte sie dann ausgerechnet nach Island gehen und sich in einer Höhle verstecken?“

   „Aus Enttäuschung. Aus Enttäuschung darüber, dass ihr Tun und Handeln nie einen Widerhall fand. Stellen Sie sich vor, Sie haben eine Aufgabe und können Sie Ihr Leben lang nicht erfüllen. Stellen Sie sich vor, Mr. Atkins, Sie wären Admiral, sollen eine Flotte über den Ocean führen, aber jedes dieser stolzen Schiffe sinkt unweigerlich nach wenigen Tagen. Würden Sie nicht verzweifeln?“

   „Ich würde mir das Leben nehmen, Sir. Auch auf die Gefahr ewiger Verdammnis hin. Das könnte ich nicht ertragen. Die vielen toten Seeleute und Passagiere.“

   „Sehen Sie, und so geht es unserer vermeintlichen Trollhexe. Sie muss jedes große Sterben vorhersehen, ohne etwas dagegen tun zu können. Sie leidet darunter, ist aber als göttliches Wesen zu Unsterblichkeit verdammt. Folglich ist auch ihr Leiden ewig. Was bleibt ihr übrig?“

   „Das klingt logisch“, mischte sich der Kapitän ein. „Der einzige Fleck, wo sie keinem anderen Menschen begegnet, dem sie den Untergang prophezeien könnte, ist eine eisige Höhle auf einer gottverlassenen, menschleeren Vulkaninsel am Ende der Welt. Entschuldigen Sie, Mr. Ingmarson, wenn ich das so sage, aber zu Zeiten Pompejis, lange bevor die Wikinger kamen, war Island mit Sicherheit der entlegenste Flecken, den sie sich vorstellen konnte.“

   „Sie müssen sich nicht entschuldigen, Kapitän. Ich nehme Ihnen Ihre Äußerung nicht übel, denn sie entspricht der Wahrheit. Exakt so muss es sich zugetragen haben.“

   „Aber warum konnte Erik sie verstehen? Warum nahm er ihre Worte ernst?“ Der zweite Offizier blieb skeptisch.

   „Das, lieber Atkins, kann Ihnen niemand beantworten. Vielleicht besaß er eine besondere Gabe. Vielleicht konnte die Frau ihn überzeugen. Vielleicht war die Zeit einfach reif für neue Erkenntnisse. So etwas gibt es in der Wissenschaft nicht selten. Jahrzehnte, Jahrhunderte lang ist der Blick der forschenden Gesellschaft wie vernagelt. Plötzlich, aus dem Nichts, taucht ein Genius auf. Mit einem Mal liegt die Lösung vermeintlich großer Rätsel glasklar vor diesem Manne ausgebreitet und der Rest der Menschheit wundert sich, warum vorher niemand darauf gekommen ist. Obwohl sie im Nachhinein furchtbar simpel wirkt. Denken Sie an Heißluftballone. Oder an die Dampfmaschine. So lange sich unsere Erde dreht, sah bestimmt jeder irgendwann einmal heiße Luft aus dem Kochtopf aufsteigen, Dampf den Deckel beiseite drücken. Und wie lange dauerte es, bis es gescheiten Leuten einfiel, diese Phänomene nutzbar zu machen?“

   „Aber wie kamen Sie bei Ihren Recherchen ausgerechnet auf Pompeji? Wie darf ich mir die Hinterlassenschaften der Trollhexe vorstellen?“ wollte ein Händler wissen, der mit uns reiste.

   „Tontafeln“, erwiderte mein „wissenschaftlicher Mitarbeiter“. „Ich fand in der Höhle eng mit Runen beschriebene Tontafeln, deren Form und Größe an das alte Babylon erinnern, die jedoch detailliert den Ausbruch des Vesuvs beschreiben.“      

   „Ha!“ triumphierte Atkins. „Jetzt habe ich Sie! Runen. Wie passen Wikingerrunen zu einer römischen Botschaft, die auf babylonische Art und Weise niedergeschrieben wurde? Das muss eine Fälschung sein. Ganz unzweifelhaft!“

   Im Nu war ich hellwach. Hatte ich bis jetzt den mir nur allzu bekannten Ausführungen mit mäßiger Aufmerksamkeit gelauscht und kurz vor dem Hinüberdämmern in ein wohltuendes Nickerchen gestanden, ließen mich die Worte des Offiziers geradezu hochschrecken. War ich womöglich einem raffinierten Schwindel aufgesessen? Der Doktor, ein abgefeimter Betrüger? Misstrauisch sah ich mich in der Runde um.   

   Der andere Händler nickte zustimmend. Entdeckte ich in seinen Zügen gar ein hämisches Grinsen? Selbst der sonst so kühle Kapitän mit seinem Pokerface zog die Augenbrauen hoch und sah sich zu einem lobenden Kommentar genötigt.

   „Nun, die Beweisführung von Mr. Atkins scheint mir absolut schlüssig und überzeugend. Was haben Sie darauf zu erwidern, Doktor Ingmar-son?“ Ich gestehe, dass mir das Herz in die Hose rutschte. Wie würde er reagieren?  Noch hatte ich die Chance, unser Unternehmen in Rotterdam abzubrechen. Noch waren mir kaum mehr Kosten entstanden als mit jedem anderen Kammerdiener.

   Erstaunlicherweise reagierte Ingmarson überhaupt nicht. War er so eiskalt? Beherrschte er seine Gefühle einfach perfekt oder konnte ich aufatmen, weil er sich den Vorwurf zu entkräften in der Lage sah? Der Mann ließ mich und alle anderen lange zappeln. Seelenruhig entzündete er sein Pfeifchen und lehnte sich genüsslich schmauchend zurück. Die Spannung im Raum war mit Händen zu fassen, die Stille erschien mir unerträglich. Unendlich lange Sekunden vergingen, eher er zu einer Antwort ansetzte.

   „Sehen Sie, meine Herren, so leicht kann es sein. Moderne Schrift, historische Technik und eine Botschaft, die irgendwo dazwischen liegt. Fertig ist der Betrug. So darf ich Sie doch verstehen, Mr. Atkins?“

   „Nun“, der junge Mann zögerte unsicher, „ich wollte Ihnen mit meiner Feststellung keinen Betrug unterstellen. Höchstens einen Irrtum. Bitte verstehen Sie mich nicht falsch. Aber wäre es nicht möglich, dass Ihnen ein übler Streich gespielt wurde? Vielleicht von einem neidischen Konkurrenten?“

   „Lieber junger Freund, ich befürchte, Sie lesen die falschen Bücher und Zeitschriften. Versuchen Sie bitte, Ihre persönlichen Erfahrungen auf eine Unsterbliche zu übertragen.

   Ich frage Sie: Welche Mitteilungstechnik verwenden Sie selbst? Wie schreiben Sie? Ist es nicht jene Schreibtechnik, die man Ihnen in frühester Jugend gelehrt hat? Mit Feder und Tinte auf Papier?“

   „Nun …“

   „Ja oder nein?“

   „Ja.“

   „Gut, Sie haben seither viele neue Worte gelernt, nicht wahr? Wenn ich richtig orientiert bin, durften Sie sogar fremde Sprachen studieren. Niederländisch, deutsch. Sprachen, die Sie hier an Bord bisweilen benutzen. Und warum?“

   „Um mich Passagieren oder Seeleuten aus diesen Ländern verständlich zu machen.“

   „Eben. Angenommen, Sie schrieben also mit Ihrer gewohnten alten Schreibfeder in der erlernten Schreibtechnik einen Brief in deutscher Sprache, sagen wir, an einen Freund in Hannover, um ihm ein Erlebnis während Ihrer letzten Seereise zu schildern. Was wäre dies anderes als eine römische Geschichte, die den Wikingern in ihrer Sprache erzählt wird? Allerdings auf die Art und Weise, die unsere geheimnisvolle Schöne vor Zeiten in Babylon vermittelt bekam?“

   Die Gesichtszüge des Kapitäns nahmen wieder ihren gewohnten Gleichmut an. Der junge Engländer bekam ob der Belehrung einen hochroten Kopf und der Händler hüstelte peinlich berührt. Mein pfiffiger kleiner Begleiter hatte sich wacker geschlagen. Lachend hieb ich ihm auf die Schulter.

   „Nichts für ungut, mein Freund. Aber woraus schlussfolgern Sie eigentlich, dass das Weibsstück eine Schönheit sein könnte?“

   „Mynheer van Delft“, antwortete er ohne zu zögern, „das ergibt sich meines Erachtens aus einer simplen Tatsache. Schönheit liegt immer im Auge des Betrachters. Und eine Frau, die über derart übersinnliche Fähigkeiten verfügt, ist für jeden echten Wissenschaftler geradezu unvorstellbar schön. Völlig unabhängig von ihren körperlichen, mit den Augen erfassbaren Vorzügen.“

   „Sie sind ein Teufelskerl, lieber Doktor. Solche Schlagfertigkeit hätte ich Ihnen gar nicht zugetraut. Sie erstaunen mich jeden Tag aufs Neue, guter Freund.“

   Lachtränen kullerten mir über die Wangen. Der Angesprochene zuckte nur mit den Schultern und sog an seiner Pfeife. Der Kerl ist einfach unbezahlbar.

 

Das Geheimnis der Kalifen

 

Tagebuch des Dorian van Delft

Mittwoch, 18. Mai anno Domini 1870,

an Bord des Dampfschiffes „St. Egidius“  

   In wenigen Stunden erreichen wir Noordwijk. Allen Stürmen und Widrigkeiten zum Trotz. Gelobt sei Jesus Christus. Endlich zu Hause. Na, fast jedenfalls. Und das, obwohl wir nicht nonstop reisten sondern zwischendurch in Norwegen weitere Ladung aufnahmen. Erstaunlich, wie schnell die neuen Dampfschiffe sind. Ich schätze, es wird nicht mehr lange dauern und solche Frachter kommen ganz ohne Segel aus.

   Jedenfalls werde ich die niederländische Erde küssen, sobald ich meinen Fuß an Land setze. Halleluja. Es lebe der König! Kaum zu glauben, wie sehr man sich nach dem heimischen Boden, nach den leckeren Pfannkuchen, Käsespezialitäten und nicht zuletzt unseren rotbackigen Mädchen verzehren kann, wenn man monatelang einsam über die Weltmeere schippert. Unbegreiflicherweise halte ich es, einmal daheim, nicht lange aus. Dann muss ich wieder los. Die Ferne ruft. Der Mensch ist ein seltsames Wesen.

   Genau genommen ist Noordwijk nicht das Ziel unserer braven „St. Egidius“. Die Waren an Bord sind samt und sonders für meine Heimatstadt Rotterdam bestimmt. Beziehungsweise für den Umschlag im dortigen Hafen. Ich habe den Kapitän allerdings gebeten, Doktorchen und mich bereits hier an Land gehen zu lassen. Das hängt mit unseren weiteren Reiseplänen zusammen. Wir wollen den Landweg nehmen, um unterwegs in Leiden einen Geschäftsfreund aufzusuchen. Tarik al Sabah. Der Bursche ist Muslim und stammt ursprünglich aus Damaskus, wenn ich nicht irre. Ein Gewürzhändler mit ausgezeichneten Kontakten nach Spanien, Indien und in den arabischen Raum. Ich wickle nahezu meinen gesamten Kaffee- und Olivenhandel über Tariks Niederlassung ab. Wenn uns einer etwas über magische Plätze auf der iberischen Halbinsel sagen kann, dann er.

   Unsere Ladung betreffend mache ich mir keine Sorgen. Ich werde von Noordwijk aus sofort eine Depesche an meinen Kontoristen Jasper senden. Er wird alles Notwendige im Rotterdamer Hafen veranlassen.

 

Tagebuch des Dorian van Delft

Donnerstag, 19. Mai anno Domini 1870,

Leiden, nachts im Hause von Tarik al Sabah  

   Was für ein Abend! Was für eine Begrüßung im Hause meines Freundes Tarik! Wir haben die schönsten Zimmer mit allen nur erdenk-lichen Annehmlichkeiten. Und erst das Abendessen! Der Tisch bog sich fast unter den Köstlichkeiten heimischer und orientalischer Küche. Mein guter Ingmarson, gewöhnt an Dörrfisch und Knäckebrot, Walspeck und dürre Suppen, wirkte angesichts der ihm unbekannten Herrlichkeiten hoffnungslos überfordert. In den weichen, tiefen Kissen schien er kleiner als sonst, schüchtern verloren in der ungewohnten Pracht.

   Wobei seine Schüchternheit natürlich auch an den Tänzerinnen gelegen haben mag, die uns unser Mahl versüßten. Zu seiner Genugtuung konnte ich ihn heute erstmals von seiner Kammerdiener-Rolle entbinden. Tarik stellt uns beiden genügend dienstbare Geister zur Seite. Ich hoffe, dem Doktor steigt dieser Abend nicht zu Kopfe. Nicht, dass er nächstens von mir ähnlich verwöhnt werden will.

   Nein, das war ein wirklich erstaunlicher Abend. Tarik ist brillant. Käme es nicht bei unseren prüden, verklemmten Holländern schlecht an, bei Gott, ich würde genau so leben wollen wie dieser Muselmann. Gut, der Wein würde mir fehlen. Wobei ich mir nicht sicher bin, ob sich in seinem Becher wirklich nur kalter Tee befand. Aber mit welcher Raffinesse er das hiesige Verbot der Vielweiberei umgeht!

   Offiziell gilt er als Junggeselle. Als steinreicher Junggeselle, wohlgemerkt. Er macht keinen Hehl daraus, verwandt mit einflussrei-chen Würdenträgern seiner Heimat zu sein. Diese wiederum stehen im Dienst der Hohen Pforte in Konstantinopel. Mit solchen Leuten wird sich ein Händlervolk wie das unsere natürlich nicht ohne Not anlegen. Zumal al Sabah zu den besten Steuerzahlern von Leiden zählt.

   Folglich tolerieren es die maßgeblichen Herren der Stadt und mit ihnen die gesamte Leidener Öffentlichkeit, dass Tarik sich einen ganzen Harem von offiziell als Tänzerin, Dienerin, Zofe und so weiter angestell-ten „Damen“ aus der Heimat in seinen Patrizierpalast am Wall kommen ließ. Eine hübscher als die andere, keine älter als höchstens Mitte zwanzig. Der Mann hat Geschmack. Und seine Geschäfte laufen bestens.

   Nach dem Essen eröffneten wir ihm unser Anliegen. Tarik hörte aufmerksam zu und … es klopft.

 

Fußnote van Delft, Rotterdam im Januar 1871

   Unvermittelt bricht mein Eintrag vom 19. Mai ab. Ich gestehe, dass es mir peinlich ist, meine Chronistenpflicht einer Frau wegen unterbrochen zu haben. Wenn ich mich recht erinnere, nannte sie sich Suleika oder so ähnlich. Selbstverständlich durfte ich ihr unzweideutiges Angebot nicht ablehnen. Tarik ist ein Mann mit Prinzipien. Er pflegt, seine Freunde großzügig zu beschenken. Seine Kultur gebietet ihm andererseits, es als tödliche Beleidigung anzusehen, wenn man seine Gaben geringschätzt. Ich hatte keine Wahl. Ein Duell mit dem heißblütigen Araber hätte ich mit Sicherheit nicht überlebt. Den weiteren Verlauf des Gespräches muss ich nun leider wieder aus dem Gedächtnis rekapitulieren, denn tatsächlich erhielten wir von dem Gewürzhändler wertvolle Hinweise. Gut.

   Tarik, wie gesagt, folgte aufmerksam den Ausführungen von Doktor Ingmarson. Als mein Begleiter geendet hatte, fragte er nachdenklich:

   „Wie kann ich Ihnen, lieber Doktor, bei Ihrer Suche nach der Unsterblichen behilflich sein?“

   „Tarik, mein Freund“, mischte ich mich ein, „es geht uns um deine brillanten Kenntnisse über Spanien. Und damit meine ich nicht nur das gegenwärtige Königreich, sondern vor allem dein Wissen um die verflossenen Reiche der Emire und so weiter, die vor der Reconquista die iberische Halbinsel beherrschten.“

   „Ja“, ergänzte Ingmarson, „es gibt auf den Runentafeln, die ich in der Höhle fand, neben dem Bericht über den Untergang Pompejis Hinweise auf heilige oder magische Orte im Süden. Ich habe Grund zur Annahme, dass die Trollhexe, also unsere Pompejianerin, möglicherweise dorthin ausgewandert ist, nachdem Erik der Rote irgendwann nicht zurückkehr-te. Ich nehme an, dass die übrigen Nordmänner ihr so wenig Glauben schenkten, wie alle Menschen zuvor.“

   „Sie könnte aber auch überall anders hin ausgewandert sein?“

   „Im Prinzip ja, aber es gibt zwei Aspekte, die mir in dem Zusammen-hang nicht unwichtig scheinen. Erstens, zwischen den üblichen Runen tauchen Zeichen auf, die ich nicht deuten kann. Ich tippe auf arabische Schriftzeichen. Zweitens, wie Ihnen, mein Herr, sicher nicht unbekannt ist, erscheinen normannische Krieger im betreffenden Zeitraum erstmals in Spanien. Soviel ich weiß, drangen sie von Süden her, dem Flusslauf des Rio Guadalquivir folgend, mindestens bis Sevilla vor. Vielleicht sogar bis Cordoba. Zu der Zeit stand das Kalifat von Cordoba in höchster Blüte. Kunst und Philosophie galten mehr als Reichtum. Wäre es nicht möglich, dass der verlorene Schatz, den die Wikinger in Andalusien suchten, statt aus Gold und Silber aus einer geradezu unbezahlbaren Wahrsagerin bestand? Ich nehme an, die Leute hatten sehr schnell ihren Fehler erkannt und wollten die Trollhexe zurückholen. Die Tontafeln konnten ihnen als Kompass dienen.“

   „Spekulationen, lieber Doktor, Spekulationen. In Wahrheit verließen die Wikinger damals, sofern wir ihrer nicht habhaft wurden, unsere iberischen Besitzungen mit reicher Beute. Und zwar mit echten, greifba-ren Schätzen. Juwelen, Diademe, Ringe, goldenes Geschirr.“ Ich horchte auf.

   „Du sprichst von ‚unseren‘ Besitzungen. Bist du am Ende selbst ein Zeitreisender, mein lieber Tarik?“ Der Araber lachte.

   „Keine Angst, Dorian, ich bin ein Mensch wie du oder unser verehrter Herr Doktor. Es ist allerdings so, dass ich einer sehr alten und traditions-bewussten Familie entstamme. Um es kurz zu machen: Einige meiner Vorfahren dienten dem Kalifen. Den Nasriden, den späteren Königen von Granada, waren sie sogar verwandtschaftlich verbunden. Sie ließen ihr Blut bei der Verteidigung der Stadt und gehörten zu den letzten Kriegern, die unsere Heimat, jenes gelobte Land Al Andalus, verließen. In unseren Bibliotheken finden sich umfangreiche Folianten, die über siebenhundert Jahre arabischen Glanzes im Süden der iberischen Halb-insel dokumentieren. Das ist ein längerer Zeitraum, als die katholischen Könige seither dort herrschen.

   1492 christlicher Zeitrechnung mussten wir Granada verloren geben. Heute schreiben wir 1870. Die Differenz kannst du leicht selbst überschlagen. Mein Vater legte stets großen Wert darauf, dass ich diese frühen Höhepunkte unserer Familiengeschichte gründlich studiere. Insofern bin ich recht gut über die damaligen Ereignisse in Spanien orientiert.“

   „Hochinteressant.“

   „Doktor Ingmarson, wollen Sie mir die besagten Tontafeln vielleicht einmal zeigen? Sollten es tatsächlich arabische Schriftzeichen sein, könnte ich Ihnen bei der Übersetzung behilflich sein.“ Ingmarson sank tiefer in seine Kissen.

   „Wollen schon. Können hingegen … Soll heißen, die Tontafeln, sie vertragen anscheinend kein Tageslicht.

   Möglicherweise hat sie die Hexe mit einem Fluch belegt. Sobald ich versuchte, einige der Tafeln aus der Höhle zu bringen, zerfielen sie zu Staub. Ich habe jedoch Abschriften der erhaltenen Tafeln in der Höhle angefertigt.“ Er griff nach seiner Aktenmappe und zog den Ordner mit seinen Kopien heraus. „Bitte sehr. Das sind sie. Ich habe viele Stunden im Skessuhorn zugebracht und mit klammen Fingern beim Schein der Öllampe Tafel für Tafel abgezeichnet. In der zweiten Zeile finden Sie jeweils die lateinische Übersetzung.“

   „Warum Latein?“

   „Welcher Mensch, der nicht von unserer Insel stammt, spricht schon isländisch? Und mir war nach wenigen Sätzen bewusst, dass weitere Forschungen allein in Reykjavik sinnlos wären. Sind Sie des Lateini-schen mächtig oder soll ich …“

   „Nein, nein, schon gut. Auch wenn jetzt alle Welt französisch redet, hielten es meine Lehrer für erforderlich, mich ein wenig in der alten Weltsprache zu schulen. Ich beherrsche sie leidlich. … Hm. … Sie sind sicher, dass Ihre Übersetzungen korrekt dem Wortlaut entsprechen?“

   „Da ich der Runensprache einigermaßen Herr bin, versichere ich Ihnen, dass Inhalt und Reihenfolge stimmen. Ob ich jedoch im Abzeichnen der mir unbekannten Schriftsymbole Fehler gemacht habe und ob der Zusammenhang, in dem sie stehen, letztlich den gesamten Text erhellen, vermag ich natürlich nicht zu beschwören.“

   „Sind es arabische Zeichen?“ warf ich ein. Tarik nickte.

  „Ingmarson hat sehr sauber kopiert, Dorian. Da er versichert, nicht arabisch zu sprechen und dies zudem eher altertümliche, heute kaum gebräuchliche Schriftbilder sind, würde ich ihre Echtheit kaum anzwei-feln.“ Ich hielt die Luft an. Ingmarson rutschte aufgeregt hin und her. Tarik ließ sich von unserer Ungeduld nicht anstecken. Nachdenklich durchblätterte er die Seiten, hielt an den betreffenden Stellen inne, griff nach Papier und Bleistift, machte sich Notizen.