1999. Filmfestspiele in Cannes. Südfrankreich. Eine internationale Gang plant den größten und spektakulärsten Brillanten-Raub aller Zeiten. Es geht um jenen Schmuck, den Hollywood-Schönheiten wie Catherine Zeta-Jones und Julia Roberts hier auf dem roten Teppich tragen. Schmuck, für diesen Zweck aus Werbegründen vom Sponsor des Festivals leihweise zur Verfügung gestellt. Der Coup gelingt. Die Bande erbeutet Ketten, Ringe und Ohrgehänge im Wert von weit über hundert Millionen Schweizer Franken. Ein fast perfektes Verbrechen.
Sieben Jahre später taucht das sogenannte „Roberts-Collier“, eine der wertvollsten Preziosen aus dem Raub, bei Sotheby‘s in London auf. Anwalt Martin Hall erhält den Auftrag, den Überbringer zu verteidigen. Keine große Sache, wie es scheint. Halls Recherche allerdings wirbelt Staub auf. Er löst mit seiner Suche nach der Wahrheit eine ungeheuerliche Mordserie aus. Verkompliziert wird die Recherche durch seine neue Angebetete. Die attraktive aber ziemlich überdrehte Malerin Corinne Blair besteht darauf, ihn zu begleiten und ihm zu assistieren. Eine blutige Spur führt Hall und Blair in der Folge über Amsterdam, Gibraltar, Córdoba und New York bis nach New Orleans.
Je tiefer sie in den Sumpf des Verbrechens eintauchen, desto mehr verwischen die Konturen von Gut und Böse, Opfer und Täter. Ein äußerst brutaler Wettlauf auf Leben und Tod beginnt.
Die Augen des Todes
Ein älterer Herr mit grauen Schläfen bummelte die Straße hinunter zu den Chelsea Piers. Er trug ein offenes weißes Hemd und eine weite hellgrüne Baumwollhose. Unterm Arm hielt er ein Päckchen Tageszeitungen zusammengerollt. Interessiert betrachtete er die gepflegten Vorgärtchen der Backsteinhäuser. Für New Yorker Verhältnisse wirkte das Wohnviertel im Südwesten Manhattans, nahe am Hudson River, geradezu kleinstädtisch. Und ziemlich gewöhnlich. Unmittelbar neben den Hauseingängen baumelten die rostigen Gerippe der Brandschutztreppen. Kästen aus hässlichem grauem Blech tropften vor nahezu jedem Fenster. Sie verbreiteten einen unangenehm chemischen Geruch. Air Conditioner. Klimaanlagen. Sie bekamen in diesem Sommer reichlich Arbeit. Immer wenn der schwülheiße Wind vom Westen her, aus dem Landesinneren, über den River herüber wehte, fiel es den Lehrern im Geographie Unterricht etwas leichter, ihren Schülern zu erklären, dass sich ihre Stadt auf dem gleichen Breitengrad befand wie die süditalienische Stadt Neapel. Das subtropische Klima ließ sich mit Händen fassen. Kaum verließ man den künstlich gekühlten Raum, war das Shirt klitschnass.
Ein Puertoricaner mit breitkrempigem Strohhut hockte neben einem Treppenaufgang und beschnitt Rosensträucher. Der Herr mit den grauen Schläfen grüßte ihn freundlich. Verblüfft blickte der sonnengebräunte Mann auf. Normalerweise ging hier selten jemand spazieren. Und gegrüßt wurde erst recht nicht. Es sei denn, man kannte sich. Aber das taten nur die wenigsten Leute in dieser großen Stadt. Jeder lebte für sich allein. Nebeneinander. Aneinander vorbei. Allerdings, die Kleidung des merkwürdigen Menschen bewies dem Gärtner, dass er nach Chelsea passte. Keine Bluejeans, kein Shirt, kein Base Cap. Kein typischer New Yorker. Kein Grund zur Sorge. Weswegen sich der Puertoricaner wieder seiner Arbeit zuwandte. Chelsea war eben anders. Denn, auch wenn hier alles recht einfach und bieder wirkte, das Viertel gehörte zu den begehrtesten Wohnquartieren der Millionenmetropole. Sicher waren die Appartements nicht so teuer wie am Central Park, aber teurer als anderswo in der Stadt in jedem Fall. Derart idyllisch ruhige Gegenden wurden immer seltener in New York. Der Latino verschwendete keinen weiteren Gedanken an den seltsamen Menschen und beschnitt seine Rosen.
Was der Spaziergänger erfreut zur Kenntnis nahm. Er schaute sich um. Niemand schien ihm zu folgen. Am späten Vormittag waren die meisten Bewohner dieser Häuser auf Arbeit oder in der Schule. Läden oder Kneipen gab es hier nicht. Auch keinen Supermarkt. Nur Wohnungen. Und die fast menschenleere Straße. Entschlossen erklomm er die Stufen zur nächsten Tür und klingelte. Es dauerte eine Weile, bis eine Frauenstimme fragte, wer da sei. Er antwortete, ein Surren ertönte und der Mann trat ein.
Wortlos ließ Chiara Terri in ihre Wohnung. Sie war ungekämmt und trug einen leichten Morgenmantel über ihrem kurzen Seidenpyjama. Der Mantel bestand aus hauchzarter Spitze, die mehr durchschimmern ließ als verhüllte. Ein Alibi-Kleidungsstück. Angesichts der aktuellen Temperaturen durchaus passend. Fahrig bemühte sich Chiara, ihre wirren Haare mit den Händen ein wenig in Form zu bringen.
„Lass es.“ Terri lächelte. „Du siehst ungekämmt verdammt gut aus. Der Hauch von Nacht steht dir.“ Er wurde ernst. „Kannst du uns bisschen Musik anmachen?“ Sie zögerte. „Der Romantik wegen!“ Sie brauchte einen Moment, bis sie verstand. Er hatte sie aus dem Schlaf geklingelt, machte Komplimente und nun … wurde ihr klar, dass etwas Schreckliches passiert sein musste. Und er rechnete mit weitaus Schlimmerem. Sonst wäre er nicht allen Warnungen und Großstadtphobien zum Trotz persönlich in Manhattan aufgekreuzt. Unangemeldet. Gewissermaßen mitten in der Nacht. Sie sprang auf und suchte eine CD.
„Was hältst du von Frank Sinatra?“
„Passt.“ Die markante Stimme füllte den Raum mit ihrem rauchigen Timbre. Falls jemand mit-hörte, hörte er „New York, New York“
„Was ist passiert, Terri?“ Er warf ihr die Zeitungen auf den Tisch. „New Yorker Hacker in Amsterdam tot aus dem Kanal gefischt“. Unter der Schlagzeile ein großes Foto des Opfers. Das zweite Blatt titelte „Schon die zweite Leiche: Simon Brown regelrecht hingerichtet! Polizei vermutet Mafia-Fehde“. Chiara erbleichte.
„Ich hab’s geahnt.“ Lange sahen sie einander schweigend an. Die junge Frau überkam das Bedürfnis, sich anzuschmiegen, Trost zu suchen. Terri Matisse nahm sie in den Arm, streichelte sie. Als er dem Mädchen vor vielen Jahren zum ersten Mal begegnet war, versuchte sie die Eiskalte zu spielen. Fremden gegenüber gab sie sich bis heute so. Das war ihre Art, sich unangreifbar zu machen. Ihr Panzer. Ihr Schutz vor einer Welt, die ihr feindlich entgegentrat, in der sie sich durchsetzen musste. Jedenfalls glaubte sie das. In dem Punkt hatte er sie schnell durchschaut. Warum das so war? Er hatte sie nie gefragt. Sie hatte nie etwas gesagt. Was wusste er von dieser Frau, die nun so zerbrechlich in seinem Arm lag? Was hatte sie durchgemacht, bevor sie gemeinsam diesen Coup starteten? Diesen Coup, der ihr Leben veränderte, der ihnen beiden eine unglaubliche Freiheit schenkte. Und zugleich neue Mauern schuf, in denen sie gefangen saßen, aus denen sie nicht ausbrechen konnten.
Nichts. Nichts wusste er von ihr. Manchmal bedauerte Terri das. Aber es war besser so. Sie taugte nichts, diese Nähe. Das spürte er. Zu viel Gefühl. Gefühl macht verletzlich. Chiara hob den Kopf.
„War er’s?“
„Paul?“ Er zuckte mit den Schultern. „Ist nicht sein Stil. Ich weiß nicht einmal, ob er überhaupt jemals getötet hat.“ Chiara rückte ein Stück von ihm ab.
„Magst du einen Drink? Ich mach mir einen Kaffee.“
„Für mich das Gleiche, bitte.“
„Setz dich da in den Sessel. Wenn ich zurückkomme, gibt‘s Frühstück.“ Henri ließ sich in das tiefe, weiche Sitzmöbel fallen. Der samtige Bezug vermittelte Geborgenheit. Es fühlte sich an, als flüstere eine leise Stimme „Bleib bei mir. Ich lass dich nie wieder fort. Was immer draußen geschieht, bei mir geht es dir gut.“ Ja. Das war es. Das passte zu Chiara. Die gelernte Innenarchitektin hatte ihre geschmackvolle Einrichtung genau nach diesem Prinzip ausgewählt. So wie sie lebte, wohnte sie. Draußen war draußen und drinnen drin. My home is my castle. Ein Fluchtpunkt. Hielt er es anders? Nein. Nur dass das alte Farmhaus seiner Familie weitläufiger angelegt war. Dafür lag es entschieden einsamer als Chiaras New Yorker Wohnung. Vermutlich verband sie mehr miteinander, als er es für möglich gehalten hatte.
Die Kaffeemaschine blubberte. Im Bad rauschte die Dusche. Frank Sinatra röhrte „I did it my way!“
„Kannst du bitte nach den Bagels schaun?“ Ein nasser Wuschelkopf schob sich durch die Badezimmertür. „Ich habe sie in den Toaster gesteckt. Kann sein, ich hab sie zu lange eingestellt. Nicht, dass sie anbrennen.“ Terri erhob sich widerstrebend.
„Soll ich uns Eier braten?“ fragte er.
„Wenn du im Kühlschrank welche findest. Müsste auch Honig, Butter und Cheddar da sein. Den Cheddar kannst du mit unter die Eier rühren, falls du magst.“ Terri mochte. Seine Familie war vor vielen Generationen von Frankreich nach Louisiana ausgewandert. Manche Gewohnheit aus der alten Welt hatte die Zeit lange überdauert. Zum Beispiel das Frühstück. Sein Vater legte stets Wert darauf, frühmorgens süße Croissants zu dünnem Milchkaffee zu bekommen. Terri hatte sich damit nie anfreunden können. Er liebte die herzhafte amerikanische Küche. Zu seiner Freude entdeckte er in Chiaras Kühlschrank zwei fast frische Paprika. Herz, was willst du mehr?
Bald zog eine Symphonie appetitlicher Düfte durch das Zimmer, die eine geradezu aphrodisierende Wirkung auf den Mann ausübte. Zum Kaffee und dem Bratenduft gesellte sich eine fruchtig-blumige Note aus Mango und Hibiskus, die von der weichen, feucht schimmernden Haut Chiaras ausging. Gehüllt in einen Bademantel, ihr langes dunkles Haar in einen Handtuchturban gewickelt, hockte sie mit angezogenen Beinen nachdenklich in ihrem Sessel und stocherte mit einer Gabel im Rührei.
„Wenn er es nicht war, wer dann? Oder glaubst du an Zufall?“
„So, wie es die Polizei in die Presse lanciert hat, glauben die zumindest nicht an einen Zufall. Allerdings haben sie keinen Schimmer, wie der ukrainische Hehler zum amerikanischen Hacker passt. Wenn sie den holländischen Makler erwischen, finden sie womöglich das fehlende Puzzleteilchen.“
„Werden sie Paul erwischen?“ Terri trank einen Schluck aus seiner Kaffeetasse. Sehr langsam ließ er ihn über die Zunge gleiten. Chiaras Kaffee musste man in kleinen Schlucken genießen. Er war stark. Das Mädel wusste, wie richtiger Kaffee schmecken sollte.
„Hast gut dosiert!“ lobte er. „So mag ich das Zeug.“
„Ich hab dich was gefragt. Was ist mit Paul?“
„Er ist abgetaucht. Wir sollen zu ihm kommen. Schnellstens.“
„Bitte? Hast du mit ihm telefoniert? Ich denk, das ist gefährlich?“ Terri schüttelte den Kopf. „E-Mail?“ Erneutes Kopfschütteln. „Fax? Brief?“
„Hab ich gesagt ‚Absolutes Kommunikationsverbot!‘ oder hab ich das nicht gesagt? Ich halte mich daran. Ein Brief wäre übrigens längst nicht hier.“
„Und woher weißt du, dass er abgetaucht ist und dass wir kommen sollen?“ Sie richtete sich auf. „Und wenn er abgetaucht ist, woher willst du wissen, wo wir ihn finden?“ Terri grinste. Chiara fand das unfair. Sie zermarterte sich den Kopf und der Kerl schien sich einen Jux daraus zu machen! Was sollte das? „Ah, verstehe. Einsetzender Altersschwachsinn.“ Wütend knallte sie den Teller auf den Tisch. Eireste und Brotkrümel flogen auf den Teppich. „Wenn du mich verarschen willst, sag’s gleich! Hab ich keinen Bock drauf.“ Sie stand auf und ging zum Fenster.
„Ach ihr jungen Dinger!“ Kopfschüttelnd trat Terri hinter sie. Er betrachtete die sanften Linien ihres schlanken Halses. So nah wurde der Duft der Frau fast unerträglich. Terri riss sich zusammen. Er reichte ihr eine der Zeitungen. Es gibt ganz wunderbar altmodische Methoden. Zum Glück kennt die von den heutigen Bullen kaum jemand mehr.“ Chiara griff nach dem Blatt.
„Und?“ fragte sie verständnislos.
„Schlag die Todesanzeigen auf. Rechte Seite ganz unten.“ Chiara las:
„Nach langer Krankheit verstarb im Alter von 99 Jahren unsere Oma, Mutti und Schwester C.C. Córdoba. Die Beerdigung findet am kommenden Freitag, 10.00 Uhr in der Kathedrale statt. R.I.P. Im Namen der gesamten Familie, P.V. Córdoba ... Was soll das?“
„Unser Notfall-Code. Damit wir wissen, dass wir gemeint sind, taucht die Jahreszahl 99 auf und der Vorname C.C. Das heißt: Cannes Chopard. Danach folgt der Ort des Treffens. Córdoba. Der wird am Schluss noch einmal wiederholt, um sicher zu gehen, dass nicht zufällig jemand anders die gleichen Initialen gebraucht. Vor der Wiederholung steht der Name des Absenders. P.V. - Paul Vandenberg. Und zwischen den beiden Angaben werden Treffpunkt und Uhrzeit präzisiert. Ganz einfach.“
„Ganz einfach? Welcher halbwegs normale Mensch abonniert denn heutzutage eine Zeitung und liest Todesanzeigen? Und warum habe ich nicht so einen Notfall-Code?“
„Weil du keine Zeitung abonnierst und keine Todesanzeigen liest.“ Terri musste lachen, als er in ihr verdutztes Gesicht sah. „Außerdem kriegen wir das hier in den Staaten auch ganz persönlich hin, hab ich mir gedacht. So wie eben gerade jetzt zum Beispiel.“ Ein schwaches Lächeln huschte über ihr Gesicht. Zum ersten Mal an diesem Vormittag. Sie legte ihre Arme um seinen Hals, sah ihm in die Augen und flüsterte:
„Du alter Gauner.“
„Hab ich nie bestritten.“ Er griff nach dem Gürtel ihres Bademantels und löste die Schlaufe. Ihre Lippen kamen seinen so nah wie nie zuvor. Bevor sie zusammenstießen, hielt er kurz inne und runzelte die Stirn. „Ähm, meinst du nicht, dass Sinatra für heute genug geleistet hat? ‚New York, New York‘ läuft mindestens die dritte Runde. Ich glaub, ich könnte etwas Abwechslung brauchen.“
„Kriegst du“, murmelte sie. „Gleich. Wart’s ab!“
Atemlose Stille lag über der Stadt. Nicht der leiseste Hauch bewegte sich. In der Glut der andalusischen Sonne verdichtete sich die Luft zu einer kompakten, gallertartigen Masse. Man hätte mit einem Messer kleine Würfel herausschneiden und auf einen Teller legen können. Sie wären nicht zerlaufen. So erlebte ich meine erste Siesta in Córdoba. Atmen fühlte sich an, als söge ich glühendes Eisen durch die Kehle. Kein halbwegs vernunftbegabtes Wesen wäre auf die Idee gekommen, um diese nachmittägliche Stunde durch die engen Gassen zu bummeln. Abgesehen von ein paar frisch eingetroffenen Touristen. Aber diese neunmalklugen Besserwisser würden spätestens in einer Stunde mit einem feuchten Tuch auf der Stirn da liegen, wo jeder Spanier und selbst Corinne und ich uns längst ausgebreitet hatten: auf dem Bett. Mit dem Unterschied, dass diese Leute dann Kopfschmerzen hatten und Durchfall und andere schöne Symptome kompletter Überhitzung aufwiesen.
Nun, möglicherweise war auch uns beiden bei der Anreise ein Fehler unterlaufen. Um die alte Metropole des spanischen Kalifenreiches mit allen Sinnen genießen zu können und möglichst zu Fuß jedes unserer Ziele zu erreichen, verzichteten wir darauf, Quartier in einem der gut klimatisierten großen Hotels am Rande der Stadt zu beziehen! Wir fanden eine kleine denkmalgeschützte Pension mitten im Zentrum. Im Judenviertel, unweit der Mesquita. In der gab es logischerweise keinen Air Conditioner. Wobei man den spätmittelalterlichen Architekten das Kompliment machen musste, alle natürlichen Möglichkeiten der Klimatisierung ausgenutzt zu haben.
Von außen ließ ein Mosaik aus farbigen Kacheln, Säulenresten der Römerzeit und weißgetünchtem Lehm der Sonne keinen Zutritt zum Haus. Betrat der Gast jedoch durch ein schmales Portal den Innenhof, empfing ihn ein Paradiesgarten aus Treppen und offenen Balustraden, die Schatten spendeten und gleichzeitig tatsächlich so etwas wie einen sanften Luftzug von Boden zum Himmel erzeugten, ausgelöst von der Hitze, die sich im Zentrum auf den fast glühenden Steinplatten staute. Rundum an Wänden, Säulen und Geländern hingen und standen hunderte Blumentöpfe. Regelmäßig und reichlich bewässert produzierten sie eine unglaubliche Blütenpracht. Der gesamte Hof duftete und leuchtete in den kräftigsten Farbtönen. Architektur und Pflanzen verbanden sich in sinnvoller gegenseitiger Ergänzung und schufen eine beschwingte Atmosphäre, die sich bis in die angrenzenden Gästezimmer zog und die Hitze vergessen ließ. Jedenfalls, solange man neben dem Bett einen eisgekühlten Drink stehen hatte und sich um Gottes Willen keinen Zentimeter bewegte. Am frühen Abend, als die Kraft der Sonne etwas nachließ, mieteten wir uns eine offene Kutsche und erkundeten die Stadt.
Córdoba gehört zweifellos zu den bemerkenswertesten Zeugnissen sowohl abendländischer als auch morgenländischer Baukunst. Das Vermächtnis der großartigen Hinterlassenschaft iberischer, römischer und frühmittelalterlich germanischer Bauherren verbindet sich auf geradezu geniale Weise mit den Bauten der arabischen Kalifen. Und diese Zeit der muslimischen Herrscher war mitnichten von religiösen Eiferern geprägt, wie man es aus heutiger Sicht vermuten könnte. Ganz im Gegenteil. Die Kalifen hegten und pflegten das zarte Pflänzlein der Toleranz zum Wohle ihrer Untertanen. Muslimische Ärzte entwickelten ihre Kunst im geistigen Austausch mit jüdischen Philosophen und christlichen Händlern. Synagogen und Kirchen wurden im Schatten der Minarette geduldet und gefördert. Im zehnten Jahrhundert unterhielt der Kalif einen intensiven diplomatischen Kontakt zum Reich Ottos, des Großen in Deutschland. Regelmäßig besuchten hochrangige arabische Delegationen aus Córdoba die Hoftage des Kaisers in Quedlinburg, Aachen oder Rom und überbrachten vielbestaunte Geschenke. Umgekehrt war sich Otto nicht zu fein, dem muslimischen Kalifen mitunter seine zumindest moralische Unterstützung selbst gegen christliche Widersacher zuzusichern. Ein Austausch kluger Köpfe zum Zwecke philosophischer und theologischer Dispute ist belegt.
Baukünstlerisch änderten die katholischen Könige Spaniens später wenig am Konzept ihrer Vorgänger. Sie erhielten die große Moschee, die Mesquita und nutzten sie, indem sie ihre Kathedrale schlicht und ergreifend mittenhinein setzten. Das Judenviertel mit seinen schmalen Häusern und verwinkelten Gassen bildet bis heute einen phantastischen Kontrast zur Weitläufigkeit der Bauten am breiten Guadalquivir-Strom. Córdoba erinnert an Träume von einer besseren Welt, an Märchen aus Tausendundeiner Nacht, in der das Gute am Ende siegt. So empfanden wir die alte Stadt.
Das Leben in Andalusien beginnt im Allgemeinen erst dann richtig, wenn in Gibraltar die Läden schließen. Wobei der genaue Zeitpunkt für den Start südspanischer Geschäftstätigkeit äußerst variabel ist. Meist öffnen die ersten ihre Türen und Fensterläden irgendwann zwischen Fünf und Sechs am Abend. Manche folgen erst erheblich später. Zwischen Acht und Neun füllen sich Straßen und Gassen mit ausgeschlafenen Menschen und ab etwa 22.00 Uhr brodelt das Leben. Man trifft sich mit Freunden, tafelt und lacht. Eine schrill quietschende Kindereisenbahn dreht irgendwo bis weit nach Mitternacht ihre Runden. Wer es gewohnt ist, früher als gegen zwei Uhr morgens zu Bett zu gehen, hat hier unter Umständen schlechte Karten. Je nachdem, in welche Richtung sich die Fenster seines Schlafzimmers öffnen.
Corinne und ich passten uns dem veränderten Lebensrhythmus rasch an. Die Dunkelheit und das fröhliche Treiben erleichterten unsere Suche nach besagter Stecknadel. Ohne sonderlich aufzufallen, schoben wir uns mit anderen Touristen durch die Straßen und Gassen. Das Postkartenmotiv, das ich bei George Campbell gesehen hatte, konnten wir bereits von der Kutsche aus entdecken. Es war der alte Prachtbau der Mesquita. Gut möglich, dass sich der Juwelier dort drin mit Interessenten zu treffen pflegte. Soweit ich einschlägigen Reiseführern entnahm, war das Gebäude weitläufig genug, um in entlegenen Winkeln unauffällig und als Tourist getarnt Geschäfte abzuwickeln. Allerdings gehörte die Kathedrale zu jenen wenigen öffentlichen Gebäuden der Stadt, die nachts nicht geöffnet blieben. Die Sicherheit der Kunstschätze besaß Vorrang. Es war sowieso kaum zu erwarten, dass unser Schmuckhändler ständig in dem Ding hockte. Ihn dort zu erwischen, wäre ein sehr, sehr glücklicher Zufall.
Weswegen wir uns zunächst wieder um Juwelier- und Antiquitätengeschäfte kümmerten.
Vielleicht lief uns Mister Campbell irgendwo über den Weg. Über eines war ich mir mit Corinne dabei absolut einig: Wenn überhaupt, dann würden wir nur in der Altstadt fündig werden. Wir hielten
es für ausgeschlossen, dass Brillanten-Hehler in modernen Büros an breiten Ausfallstraßen arbeiteten. Möglicherweise hatten sie dorthin ihre Buchhaltung ausgelagert. Sie beschäftigten bestimmt
Heerscharen von Steuerberatern und Anwälten in solchen Häusern. Aber die kaufkräftige Kundschaft, die das Besondere an einem besonderen Ort suchte, legte Wert auf die Anonymität der Menschenmenge
in pittoresken Gässchen wie der Calleja de las Flores oder rund um die Synagoge.
Es wäre vermessen gewesen, sofort durchschlagende Erfolge zu erwarten. Immerhin fanden wir einige Geschäfte, in denen wir uns einen George Campbell gut vorstellen konnten. Wir beschlossen, nach und nach jeden unserer Kandidaten gründlich zu observieren. Corinne begann umgehend, sich neue Sonnenhüte zuzulegen. Zur Tarnung. Einer auffälliger als der andere. An diesem Ort eine zweifellos erfolgversprechende Strategie. Sie würde sich in nahe Cafés setzen, Eis essen, Zeitschriften lesen und beobachten. Ich nahm mir vor, stets ein wenig herumzulaufen und nur dann und wann stehen zu bleiben. Und natürlich wollten wir unbedingt die Mesquita besuchen!
Inspektor Jones saß an seinem Schreibtisch und betrachtete den Zettel. Er drehte und wendete ihn. Es wollte ihm nichts Besonderes daran auffallen. Die Spurensicherung hatte ihn untersucht. Keine Fingerabdrücke. Die krakelige Schrift ließ sich keiner bekannten Handschrift zuordnen. Jedenfalls keiner Schriftprobe aus Gibraltar. Die Botschaft allerdings klang eindeutig:
„Hall und Blair haben Campbell. Angriff mit Betäubungspfeilen war fingiert. Campbell nach Córdoba entführt. Lockvogel für Vandenberg. Sollen dort wie Männer in Holland getötet werden. Die Deutschen gehören zur PINK PANTER Gruppe, die Cannes Brillanten geraubt hat. Wollen ihre Cumpane umbringen, um sich verbliebene Beute unter Nagel zu reißen und Spuren zu verwischen. Falle für Freitag 10.00 Uhr in der Mesquita gestellt. Ein Freund der Gerechtigkeit“
Ein schlechter Scherz oder bitterer Ernst? Natürlich war ihm selbst schon der Gedanke gekommen, dass der Überfall auf dem Berg ein Trick sein konnte, um von den wahren Absichten der Beiden abzulenken. Es wäre ein Leichtes gewesen, eine Patrone gegen den Fels zu schlagen, die zweite Frau Blair in den Arm zu stechen und dann zu warten. Allerdings hätten sie Campbell auch ohne solchen Aufwand entführen können. Und die Morde in Amsterdam? Tja. Nichts ist unmöglich. Von Sevilla nach Amsterdam und zurück gingen viele Flüge. Von anderen spanischen Flughäfen ebenfalls. Zeitlich wäre es möglich. Alle Passagierlisten zu prüfen würde Tage dauern. Durfte er das Risiko eingehen? Zumal ausdrücklich Vandenberg aus Amsterdam erwähnt war. Das konnte nur ein Insider wissen. Es blieb ihm nichts weiter übrig; er musste die ungeliebten Partner in Spanien über den Hinweis von diesem „Freund der Gerechtigkeit“ in Kenntnis setzen. In der Hoffnung, sich nicht bis auf die Knochen zu blamieren.
Die Mesquita von Córdoba ist keine einfache Kirche oder Moschee. Sie ist eine Welt für sich. Als
Moschee auf den Grundmauern der westgotischen Kirche San Vicente errichtet, arbeiteten an ihr arabische und christliche Baumeister oft Hand in Hand. Die Kalifen von Córdoba nutzten römische
Säulen und ließen sich vom Kaiser aus Byzanz wertvolle Baustoffe senden. Durch die Jahrhunderte immer wieder erweitert, entstand ein Wald aus Pfeilern und Bögen, der sich in alle
Himmelsrichtungen schier endlos dehnt. Mittendrin erhebt sich der barocke Prunkbau der neuen Kirche und schwingt über die mittelalterlichen Dächer hinaus.
Atemlos wanderten Corinne und ich Hand in Hand durch dieses Märchenschloss. Stunden hätten wir in der gewaltigen Halle zubringen können, wären wir nicht aus einem anderen Grund nach Córdoba gekommen.
Nun, auch wenn die Observierung auf Dauer ein eintöniges und nervenzehrendes Geschäft war, wir kamen unserem Ziel näher. In einem der Läden glaubte ich einen Mann gesehen zu haben, der von weitem unserem Mister Campbell sehr ähnelte. Allerdings verschwand er zu schnell, als dass ich ihn dingfest machen konnte. Das war am Mittwoch. Folglich bezogen wir Donnerstag an beiden Enden der Gasse, in der sich das Geschäft befand, unsere Beobachtungsposten. Der Vormittag verlief weitgehend ereignislos. Gegen Mittag allerdings, ich wollte gerade meine Zelte abbrechen und Corinne zur Siesta abholen, passierte etwas. Ein kleiner Junge kam auf mich zu gelaufen, überreichte mir einen Zettel und rannte davon. Der Zettel enthielt eine Botschaft, die mit krakeliger Handschrift in englischer Sprache abgefasst war. Sie lautete:
„Kommen Sie morgen beide um 9.00 Uhr in die Mesquita. In der Nähe der Maksura werden Sie mich finden. Ein Freund.“
Was sollte das? Wer konnte von unserem Plan wissen? Wer hatte uns erkannt? Campbell? Waren wir so auffällig vorgegangen, dass man uns zu allem Überfluss als „beide“ identifiziert hatte? Was tun? Zur Polizei gehen? Mit so einem albernen Zettel? Wir entschieden uns für getrennte Wege. Ich würde der Aufforderung folgen. Corinne sollte in unserer Pension auf mich warten und wenn ich bis halb Elf nicht zurück wäre, die Polizei alarmieren.
Gesagt, getan. Pünktlich um Neun öffnete die Mesquita ihre Pforten. Ich gehörte zu den ersten Touristen, die sie betraten. Sehr vorsichtig in großem Bogen näherte ich mich der Maksura. Die Maksura ist ein besonders prächtig geschmückter Teil der alten Moschee. Unter ihren Gewölben fanden sich der jeweils herrschende Kalif und seine männlichen Verwandten ein, wenn der Muezzin vom Minarett zum Gebet rief. Da sich die Maksura relativ zentral in der riesigen Halle und außerdem im Schatten der barocken Kirche befindet, ist es dort ein wenig dunkler als im Rest des Hauses. Ich nutzte diesen Vorteil, mich möglichst unauffällig von Säule zu Säule zu schleichen. Bis mich etwas in den Hals stach. Mir wurde schwarz vor Augen.