Band 2 der Reihe „comediantes Doppelpack“ vereint nachdenkliche und tiefsinnige Kurzgeschichten von zwei Autoren, die sich als Ururenkel des großen Novellisten Gottfried Keller und der deutschen Aufklärung verstehen. Die lachende und die weinende Maske, die zum Theater ebenso gehört wie zu einer guten Geschichte, setzen sich beide nur allzu gern auf, wenn es darum geht, Abgründe des menschlichen Zusammenlebens auszuloten.

 

Die erste Hälfte des Bandes trägt den Untertitel

 

„Das Mädchen mit dem Wachslicht“ und enthält zwei Novellen.  

 

Wolfram Christ betritt mit diesen beiden Erzählungen ein Grenzgebiet, in dem Surrealismus und Mystik aufeinander treffen. Mit beidem ist er gut vertraut. In seinem Vorleben als Filmemacher und Regisseur tauchte er tief in die mittelalterliche deutsche Frauenmystik ein. In Paul Delvaux, einem bedeutenden belgischen Surrealisten des 20. Jahrhunderts, begegnete er einem Maler, dessen grandioses Frauenbildnis „Chrysis“ ihn zur Titelgeschichte der ersten Hälfte dieser Sammlung inspirierte.

 

Der zweite Teil des zweiten Doppelpack Bandes ist mit

 

„Altweibersommer“ überschrieben.

 

Die Autorin bzw. der Autor, näheres weiß man nicht, mit dem etwas merkwürdigen Pseudonym J. E. Trotz scheint ein Faible für romantische und erstaunliche Phänomene zu besitzen. Auf alle Fälle ist sie oder er in der Welt ein Stück herumgekommen. In „Sunset Limited“ verknüpfen sich ganz gegenwärtige fiktive Ereignisse an der Grenze zwischen Mexico und den USA mit mythologischen Überlieferungen der kalifornischen Ureinwohner vom Stamm der Chumash.

Die titelgebende Kurzgeschichte hingegen könnte sich in irgendeiner Kleingartenidylle irgendwo in Mitteleuropa exakt so zugetragen haben. 

Leseprobe

 

Altweibersommer

 

Tief stand die Sonne. Noch wärmte sie. Wo ihre Strahlen nicht hin fielen, ließ sich bereits erahnen, wie kalt die Nacht werden würde. Wo sie hin fielen, zogen sie unzählige kleine Artisten ins Rampenlicht.

Das Eintagsfliegen-Ballett zum Beispiel.

Liebestrunken taumelten die Tierchen umeinander im Reigen. Die letzte Biene des Jahres machte sich mit gewagten Kopfständen an Astern, Dahlien und Herbstzeitlosen zu schaffen.

Zwischendrin eine Flugschau der Extraklasse: Ein Schwalbenschwänzchen. Der kleine Schmetterling stand wie ein Kolibri nahezu regungslos in der Luft über dem dunkelblauen Männertreu. Die Frequenz seines Flügelschlages war zu hoch, um einzelne Bewegungen mit bloßem Auge wahrzunehmen. Sorgfältig wählte der kleine Künstler aus den wenigen verbliebenen Blüten jene aus, die er der Ernte für würdig erachtete. Sehr elegant, sehr gekonnt, schob er sich sodann, ohne das Objekt seiner Begierde zu berühren, in die geeignete Position. Langsam, fast wollüstig, senkte er den Saugrüssel von oben in den Kelch und betankte seinen gedrungenen Körper in der Luft mit süßem Nektar. Ein Lohn, den er sich redlich verdient hatte. 

Und dann kamen sie. Sie waren die Hauptattraktionen im Spätsommerzirkus hinterm Haus. Man hätte sie wohl kaum wahrgenommen, wären nicht die hauchdünnen Fäden zuweilen in der Nachmittagssonne aufgeblitzt, an denen sie durch die seidenweiche Luft schwangen. Hier, da, überall. Und nur, wenn sie irgendwo hängenblieben und man genauer hinsehen konnte, entdeckte man die kleinen Künstler. Junge Spinnchen. Sie ließen sich treiben. Hierhin, dahin, überall hin. Auf der Suche nach einem Platz, an dem sie den bevorstehenden Winter überdauern könnten. Aber für den Moment genossen sie einfach ihren großen Auftritt. Hochseilartisten, frei schwebend, ohne Netz und doppelten Boden.

Anders als noch vor ein paar Wochen, herrschte an diesem Nachmittag nahezu atemlose Stille in der Kleingartenanlage. Keine kreischenden Ferienkinder mehr, keine balgenden Kläffer, kaum Zwitschern oder Zirpen, um Reviere zu markieren oder paarungswillige Partner anzulocken. Nur die letzte Biene kam nicht ganz ohne ihr gewohntes sonores Summen aus. Mensch und Natur gönnten sich eine Auszeit vom hektischen Betrieb der heißen Monate! Ruhe. Altweibersommer.

Nun gehört Stille zu jenen Erscheinungen, die der Mensch auf Dauer nur sehr schwer erträgt.

Weswegen verschiedene Exemplare besagter Gattung auf unterschiedliche Art und Weise Anstrengungen unternahmen, der Stille den Garaus zu machen. Einer begann, auf seiner Trompete zu üben. Die kläglichen Töne, die er hervorbrachte, weckte im Nachbargarten ein schlafendes Baby. Das Kind verlangte daraufhin lauthals schreiend nach Mamas Brust. Jemand schimpfte am Gartenzaun über die unerhörte Störung seiner Feiertagsruhe. Dass wenig später ein Rasenmäher ins Konzert einstimmte, fiel letztlich kaum noch ins Gewicht. Innerhalb weniger Sekunden hatte sich die himmlische Ruhe in eine Kakophonie einander überbietender Lärmquellen verwandelt. Ein wahres Trommelfellgemetzel!

Ärger kochte hoch. Der Stresspegel stieg. Viel hätte nicht gefehlt, und die Lage zwischen den Schrebergärten am Hornveilchenweg wäre außer Kontrolle geraten.

Einer der Kleingärtner hatte bereits Hochleistungsboxen auf die Terrasse geschleppt und rief am Rechner diverse Playlists auf. Zum Glück für seine Nachbarn konnte er sich nicht gleich entscheiden, ob er mit Rammstein oder vielleicht doch lieber mit „Zehn nackte Friseusen“ vom vorletzten Ballermann-Urlaub zurückschlagen sollte.

Es kam anders. Ein kleines Mädchen, das Kind mochte fünf oder sechs Jahre alt sein, tanzte, gedankenversunken und ohne sich um die Erwachsenen zu kümmern, den Hornveilchenweg entlang. Weil just in diesem Augenblick dem Rasenmäher der Sprit und dem talentfreien Trompetenspieler die Puste ausgingen, konnte man hören, dass sie ein Liedchen trällerte. Ein Wiegenlied oder ein Abzählreim? Hinterher wusste das keiner so genau zu sagen. Zu überraschend war die Melodie aufgetaucht.

Jedenfalls:

Das Baby verstummte und nuckelte glücklich im Arm seiner Mutter vor sich hin. Der Mann mit der Playlist klappte den Rechner zu. Er atmete tief durch und lehnte sich in seinem Gartenstuhl zurück. Und der andere, der gerade noch am Gartenzaun zeternd die ganze Bagage zur Hölle gewünscht hatte? Er sah dem singenden Kind verträumt lächelnd nach.

Blinkende Spinnwebfäden wehten über den Weg und durch die Gärten. Es herrschte wieder Stille. Die Stille des Altweibersommers. Nur die letzte Biene konnte oder wollte nicht völlig auf ihr sonores Summen verzichten. Aber das war in Ordnung.